In seinem neuen Thriller nimmt sich der Star-Autor dem Thema Analphabetismus und der durchaus sehr intelligenten Kunst, dieses immense Manko im Alltag durch Begabungen autistischer Prägung vor den Mitmenschen gekonnt zu verbergen, an. Durch ein fotografisches Gedächtnis und Begebenheiten z.B. durch Zeichnungen festzuhalten schlägt sich der Protagonist Milan Berg zuerst als Kleinkrimineller durchs Leben. Doch wie häufig in seinen Romanen ist die Geschichte vielschichtig und Fitzek stellt die These auf, dass nicht nur rote Haare rezessiv vererbt werden können ergo eine Generation überspringen, sondern auch tiefschürfende Eigenschaften und Neigungen. Man ahnt es, es kann sich bei vom Berliner Enfant Terrible ersonnener Geschichte um nichts Gutes handeln. Was Milan im Laufe des Plots über sich selber herausfindet und wie entsetzlich dies für ihn und seine Mitmenschen ist oder sein könnte, möchte er am liebsten wieder ins Ungewisse verbannen und ist alles andere als ein Geschenk. Welchen grausamen Zusammenhang gibt es zum Analphabetismus und zu Experimenten, welche dem Dunstkreis von Josef Mengele ohne Umschweife zugeordnet werden könnten? Nun, dies kann hier aus „Spoiler-Alarm“ Gründen nicht näher erörtert werden.
Sebastian Fitzeks tief liegende grau-blaue Augen sind stechend, sein oft aufblitzendes Lächeln schwankt bisweilen zwischen diabolisch und spitzbübisch, um direkt wieder in Ernsthaftigkeit während unseres Gesprächs zu verfallen. Er tritt locker, sympathisch und selbstbewusst auf. Doch dieses immer wieder aufkeimende düstere Funkeln in seinen Augen wirkt unergründlich wie die Herkunft der oft furchterregenden und grausamen Geschichten in seiner Gedankenwelt. „Marilyn Manson habe ich auf Spotify Hot-Rotation und am Rammstein-Hype komme auch ich nicht mehr vorbei und werde im nächsten Jahr eine Show besuchen!“, stellt er fest, als der Blick auf die zuvor aufgezeichneten Gespräche in meinem iPhone fällt, was nicht überrascht, da er regelmäßig Bands wie Marilyn Manson, The Cure oder Depeche Mode zitiert und in seinen Büchern erwähnt. „Ursprünglich wollte ich in der Musikbranche Fuß fassen, wurde aber bei allen Plattenfirmen, bei denen ich mich beworben habe, abgelehnt, da ich auch keine Kontakte hatte“, unterbreitet der Sohn eines Lehrerehepaars resümierend, dessen Werdegang von einem promovierten Juristen über Radio-Moderator bis hin schließlich zum Bestseller-Autor reicht.
Es dürfte zwar nur wenige Sonic Seducer Leser geben, die noch kein Buch von ihm gelesen haben. Als Einstiegsempfehlung legt er tatsächlich sein Debütwerk „Die Therapie“ nahe. „Die Leser sollten besser nicht zu irgendeinem meiner Bücher greifen, da diese sich schon stark unterscheiden. Ich denke, auf meinem klaustrophobischen Erstling ‚Die Therapie‘ liegt ein besonderer Zauber. Ich schreibe allerdings keine Serien, alle meine Bücher sind eigenständig“, teilt er nicht ohne Stolz mit, da er seinen ersten Thriller viermal umgeschrieben hat und er bei 13 Verlagen abgelehnt wurde, welche heute wahrscheinlich ähnlichen Argwohn empfinden müssen wie die Plattenfirmen, die einst Metallica ablehnten.
Seine Werke laufen alle unter Psychothriller, bezeichnend ist aber auch, dass in den meisten Stories auch ein Psychotherapeut eine Rolle spielt. Dieser erscheint aber mehr als Mittel zum Zweck? „Allem voran spielt die psychologische Entwicklung eines Charakters eine große Rolle. Mich interessiert die menschliche Seele, der Geist, die unbekannte Psyche des Menschen. Das ist die unentdeckte Welt schlechthin, nur die Tiefsee ist auf unserem Planeten genauso unerschlossen. Wir haben diese Tiefsee aber auch in uns selbst. Wir versuchen, mit unserem eigenen Gehirn unsere Psyche zu verstehen, das ist per se zum Scheitern verurteilt. Es ist eine Welt, die wirklich schon übersinnliche Phänomene erzeugt! Stichwort: Hypnose, Stichwort: Multiple Persönlichkeiten. Allein die Tatsache, dass wir schlafen und damit täglich über sehr viele Stunden das Bewusstsein verlieren und wiederum im Traum in einer anderen Welt sind, die uns unter Umständen völlig real erscheint, ist ein Mysterium, welches viel weniger erforscht ist als z.B. der Verbrennungsmotor. Insofern ist das tatsächlich ein gefundenes Fressen für Autoren, wenn man Geheimnisse entschlüsseln will. Darüber wissen wir noch viel zu wenig, in unserer ach so aufgeklärten Welt tragen wir noch so viele Geheimnisse in uns, und diese auszuloten, das interessiert mich“, stellt er sichtlich begeistert und fasziniert fest.
Es stellt sich die Frage, aus welcher Perspektive betrachtet ein Thriller-Autor wie Sebastian Fitzek die vermeintliche Unbekannte Psyche der Individuen? „Eindeutig aus der Opferperspektive!“, konstatiert er, „mich interessiert sozusagen weniger das Ereignis, wie z.B. ein Autounfall, sondern wie die betroffene Person mit diesem schweren Einschnitt umgeht. Mich interessieren nicht die Serienkiller, die Mörder!“, verkündet er inbrünstig und wirft mir einen tiefgreifenden Blick zu. „Natürlich will ich diese auch verstehen und die Motive ergründen, aber mich interessiert viel mehr, wie der Ottonormalverbraucher, der nicht auf Gewalt trainiert ist, reagiert, wenn ihm die Maske vom Kopf gerissen wird und er auf einmal nackt dasteht und er handeln muss!“, bricht es aus Sebastian Fitzek heraus, während er seine Kaffeetasse etwas zu heftig abstellt und der Tisch zu wackeln beginnt, gegen welchen er gerade versehentlich euphorisiert gestoßen ist. „Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als über sich hinaus zu wachsen, um z.B. die dunkle Welt, in welcher er sich völlig unvoreingenommen plötzlich befindet, abzustreifen, um wieder normal leben zu können“, sprudelt es weiter aus ihm heraus, als würden gerade seine kreativen Zellen mit Adrenalin geflutet und die nächste Idee für eine neue Geschichte scheint fast greifbar in der Luft zu liegen.
In fast allen Büchern spielt die gesamte Handlung in seiner Heimatstadt Berlin, welche z.T. auch sehr genau beschrieben wird. Im neuen Roman hingegen spielt ein Großteil auf der Insel Rügen. „Es war nicht von Anfang an geplant, dass unsere Protagonisten nach Rügen fahren. Ich lasse mir gerne weiße Felder im Handlungsstrang, welche ich erst später ausfülle. Ich mag es, wenn ich nicht alles genau determiniert habe und ich mich selbst von der Handlungsentwicklung überraschen lassen kann. Für mich ist es eine Motivation, zum Schreibtisch zu gehen, wenn ich mir die Frage stellen kann, wo geht denn die Reise heute hin. Am Anfang lasse ich die Figuren noch loslaufen und spätestens nach 80 Seiten haben sie ihr Eigenleben und ich bin nur noch Beobachter. In diesem Fall geht ihre Reise eben nach Rügen“, umschreibt er mit einem schelmischen Grinsen einen Teil seines Alltags als Erfolg gewöhnter Psychothriller-Autor, welcher sich seiner Sache ziemlich sicher ist und es locker angehen lassen kann. „Ich schreibe allerdings nur über Orte, in welchen ich mich auch auskenne und einen Zugang habe.“
Dieser Selbstsicherheit ging allerdings auch eine Entwicklung voraus mit einer ganz einfachen Erkenntnis. „Mein erster Roman spielte zuerst vor der Ostküste der USA. Mein Agent fragte mich damals, warum, wie das ein guter Lektor so macht. Er teilt nicht einfach mit, ändere das und wenn man auf diese Frage keine sinnvolle Antwort hat, scheint diese Passage ganz offensichtlich nicht schlüssig zu sein. Meine Antwort war damals, die meisten Thriller, die ich kenne, spielen halt in den USA. Seine einleuchtende Antwort war, nein, die meisten Thriller spielen dort, wo der Autor sich auskennt.“ Damit war für Fitzek der Impuls gesetzt, dass er seine erste Geschichte wohl am besten nach Deutschland oder noch besser in die Hauptstadt Berlin zu verlegen, in welcher er aufwuchs.
Häufig gewinnt man allerdings den Eindruck, dass sich bekannte Persönlichkeiten immer mehr zurückziehen und damit weniger Inspirationen aus dem realen Leben für neue Geschichten oder Charaktere aufgreifen können. „Meine Storys und Charaktere setzen voraus, dass ich auch etwas erlebe und am Leben teilnehme. Man muss sich als Autor Inspirationsquellen bewahren, sonst beginnt man zu stagnieren. Das kann z.B. auch Musik sein.“ In „Das Geschenk“ wird die These aufgestellt, dass nicht nur rote Haare rezessiv vererbt werden können, sondern auch Wesenszüge und Charaktereigenschaften. Die Kinder von Martin Gore (Depeche Mode) könnten schwarz sein, da er einen schwarzen Vater hatte, selbst aber weiß ist. Dass aber auch das Böse weitervererbt werden könnte und dabei eine Generation überspringt, erscheint ziemlich neu? „Das wird gerade diskutiert und erforscht, ob das möglich ist. Dazu gibt es aber noch keine abschließende Antwort. Das ist allerdings hoch umstritten. Alleine schon die Frage, ob Psychopathie überhaupt direkt vererbbar ist, rührt an unserem Grundverständnis. Das würde unsere eigene Entschlussfähigkeit völlig infrage stellen. Sind wir überhaupt noch Herr unserer Entschlüsse oder sind wir nur von unseren Genen getrieben? Kann man uns überhaupt noch zur Verantwortung ziehen? Beispielsweise, wenn jemand einen Tumor hat, welcher auf ein bestimmtes Hirnareal drückt, was dazu führt, dass jemand schizophren wird und jemanden anderen umbringt, weil er ihn für Satan hält. Würde das dazu führen, dass derjenige von jedem Gericht der Welt freigesprochen wird, wenn dies klinisch nachweisbar wäre?“
Völlig in seinem Element angekommen, postuliert Sebastian weiter: „Wenn jemand eine genetische Disposition hat, welche ihm jegliche Empathie geraubt hat, wäre er damit schuldunfähig und könnte damit vor Gericht durchkommen? Ich kann gar nicht anders, das Böse liegt in meiner Natur, es wurde mir vererbt!“ In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, welchen Einfluss haben das Umfeld und Milieu, in welcher die Person aufwächst? „Genau das ist die Frage. Es gibt Kriminalisten, die festgestellt haben, dass dies unter Umständen keine Rolle spielt, da selbst Menschen, die in den besten Verhältnissen aufwachsen und denen es an nichts fehlt, Züge des Bösen aufweisen!“, entgegnet er, während seine Augen wieder dieses finstere Funkeln aufblitzen lassen und eine gewisse Faszination nicht verbergen können, um als Jurist in spe zu ergänzen, dass er das schon mal in seinem Thriller „Das Joshua-Profil“ thematisiert hat. „Ist mein Schicksal vorherbestimmt oder bin ich in der Lage, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und zu beeinflussen?“, spinnt er das Thema mit einer philosophisch-religiösen Komponente weiter. „Das Böse ist jedoch die Ausnahme, aber leider leben wir auf einem Planeten, der sieben Milliarden Menschen hat. Das heißt aber, selbst wenn 99% aller Menschen das Herz auf dem rechten Fleck haben, gutmütig und friedfertig sind, haben wir mit einem Prozent immer noch siebzig Millionen Menschen, die die Welt in Angst und Schrecken versetzen können. Es ist also klar, dass sich die Schlagzeilen mit Horrormeldungen füllen. Trotzdem ist dies ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit, das Böse ist die Ausnahme“, stellt der zufrieden lächelnde Vater von drei Kindern abschließend fest.
Thomas Vogel
www.sebastianfitzek.de
Foto: Gene Glover