Da kann es nicht schaden, sich anhand der freundlich gewährten Insider-Infos des Elmar Herrmann einmal einen persönlich getünchten Blick hinter die Kulissen des Ausnahmeevents zu verschaffen.
Warum sind die Krupps diesmal nicht dabei? Gibt es vertragliche Abmachungen, die das Line-Up in gewisser Weise diktieren? Wie wählt ihr aus?
Üblicherweise vermeiden wir direkte Wiederholungen von einem Jahr auf das nächste. Eine ungeschriebene Regel in unserer Programmplanung. Die Kriterien nach denen wir die Bands auswählen, lassen sich nicht gänzlich verallgemeinern. Konkrete vertragliche Vorgaben gibt es in dem Sinne keine. An erster Stelle steht die Besucherumfrage mit den Bandwünschen. Zweitens sollten es Bands sein, die bestenfalls noch gar nicht oder zumindest nicht direkt im Vorjahr auf dem E-tropolis gespielt haben. Als Drittes legen wir großen Wert auf Ausgewogenheit. Vor allem gegen Ende des Bookings basieren Entscheidungen oft auf der Frage, wer sich am besten in das bestehende Bild einfügt. Meist haben wir dann schon bestimmte Bands im Auge, von denen wir uns dann für die eine oder die andere entscheiden – natürlich vorausgesetzt, dass die betreffenden Band hat Zeit und Lust haben, bei uns aufzutreten.
Das Line-up ist offiziell noch nicht komplett. Magst du uns noch ein paar weitere Acts verraten? Oder – besteht noch die Möglichkeit, sich für das E-tropolis 2020 zu bewerben?
In diesem Punkt darf ich dich korrigieren. Die Bands für 2020 sind bereits vollzählig. Zusammen mit einigen anderen kamen im Juli noch Front 242 und Hocico hinzu. Aktuell feilen wir aber noch am DJ-Line-Up. Sowohl für die After-Show-Party als auch die Pre-Party am Freitag.
„Bässer, Härter, Lauter“ – so soll es sein! Hat es in der Vergangenheit schon Techno-Freaks gegeben, die sich verwundert die Augen gerieben haben, als sie feststellen mussten, dass nicht allein DJs sondern „echte“ Bands an den Start gehen?
Das E-tropolis Festival ist sehr stark im Dark-Electro-Segment verwurzelt. Electro-Pop, Synthpop, EBM, Industrial. Dem fühlen wir uns verbunden. Natürlich schillern auch ab und an mal Techno-Elemente durch und wir freuen uns immer, wenn sich Gäste aus anderen Bereichen der elektronischen Musik auf dem E-tropolis wohlfühlen. Man sollte diese Dinge in der heutigen Zeit nicht so eng sehen. Die Energie und das gemeinschaftliche Erlebnis stehen im Vordergrund. Ich bin mir sehr sicher, dass die musikalische Darbietung aus Fleisch und Blut niemanden vor ein allzu großes Mysterium stellt.
Erachtest du das E-tropolis auch als einen Reflex auf die gnadenlos gentrifizierte Welt außen vor? Welchen Stellenwert nehmen EBM etc. heute ein?
Ich denke, jede Form von Subkultur nährt sich zu einem gewissen Grad am Widerstand gegen bestehende Konventionen – egal welcher Couleur. Hätten Elvis und die Beatles nicht den Rock & Roll salonfähig gemacht, die Sex Pistols dem Punk ein Gesicht gegeben und Kraftwerk die elektronische Antwort auf die Chansons der 60er und 70er geliefert, würden wir womöglich noch immer artig auf unseren Stühlen sitzen und in die Hände klatschen. EBM bildet dabei keine Ausnahme und nimmt sich obendrein die Freiheit, unsere moderne Gesellschaft zu demaskieren. Sei es durch klare Statements oder die Zeichnung eines mechanischen Utopia, in dem der Mensch Teil der Maschine wird. Ob „gnadenlose Gentrifizierung“ der richtige Begriff für das ist, was in der Welt abgeht, – dessen bin ich mir unschlüssig. Wenn man es darauf anlegt, kann man das E-tropolis aber schon als eine Art Urlaub von einer Gesellschaft begreifen, in der hochgezüchtete Hi-End-Fassaden einen höheren Stellenwert einnehmen, als innere Werte. Ein Festival wie E-tropolis kann jedoch immer nur die Spitze des Eisbergs sein. Eine kumulierte Zusammenkunft Gleichgesinnter, die sich der Freiheit bewusst sind, andere Wege zu gehen, als es die Leitkultur uns oftmals vorzuleben versucht. Der wahre Reflex auf die „schöne neue Welt“ ist die Szene an sich – und das E-tropolis ein Ventil, den Reflex friedlich und gesellig auszuleben. Trivial formuliert: Endlich aml normale Leute! Arbeit und Lohn statt „Smart“ und „Home“ (lacht).
Als Front 242 aufkamen, hatte dies einen quasi revolutionären Aspekt. Glaubst du, dass Front 242 auch heute noch in diesem Sinne schaffen?
Legenden wie Front 242 sind Zeitdokument und zeitlos zugleich. Sie legten mit den Werkzeugen ihrer Zeit, die sie zum Teil selbst mit entwickelten, den Grundstein für viele andere Bands und Abwandlungen, die daraus entstanden. Diese Wurzeln bleiben omnipräsent, sie leben und entwickeln sich immer wieder neu, wenn sich junge Musiker auf alte Meister besinnen und aus ihren Werken neue Ideen schöpfen. So wie sich auch die Technologie hinter der Musik stets weiterentwickelt, von handwerklich analogen Klangtüfteleien bis hin zur digitalen Workstation. Es mag sich paradox anhören, doch indem Front 242 ihren ganz eigenen Stil kultivieren und live auf die Bühne bringen, liefern sie den Nährboden für eine weitere Revolution. Man stelle sich einen jungen Musiker vor, der Front 242 zum ersten Mal live erlebt und daraufhin seine eigenen musikalischen Ideen mit dem Erlebten verbindet. In der Strahlkraft großer Werke schlummert eine zeitlos revolutionäre Kraft, die selbst in unseren gesättigten Zeiten noch Impulse setzt. Solange es Schüler und Meister gibt, solange diese Verbindung besteht, lebt die Kunst! Sei es durch Inspiration oder – gar bewusste Vermeidung jener solchen.
Covenant und Hocico als Co-Headliner: Größer ging die Spreizung wohl nicht, oder?
Nichts ist unmöglich – fast alles ist erlaubt. Zwei Seiten – eine Medaille! Wie wäre es, wenn wir mal H.P. Baxxter anfragen? Natürlich nur so rein „spreizungstechnisch“, versteht sich (lacht).
Desgleichen gilt auch für Torul und Winterkälte. Läuft E-tropolis nicht Gefahr, als beliebige Hintergrundbeschallung für Altherrentreffen zu verkommen?
Harte Kontraste sind das Salz in der Suppe! Ein Verzicht auf Gegensätze hätte längst heraufbeschworen, was die Frage skizziert.
Ist schon mal in Erwägung gezogen worden, das Festival auf zwei Tage auszuweiten? Platz zum Campen gäbe es ja reichlich…
Alles Schönen, das man liebt, legt die Versuchung nahe, es zu vermehren. Wir betrachten es in diesem Falle rein pragmatisch: Ein zweiter Tag würde das E-tropolis für alle Beteiligten in erster Linie teurer machen. Camping scheidet im März komplett aus, da es mitunter noch klirrend kalt ist. Wir hatten sogar schon E-tropolis Festivals im Schnee. Eine Hotelübernachtung mehr oder weniger sorgt dann schon für einen spürbaren Unterschied in der Reisekasse. Wir dürfen uns sehr glücklich schätzen, mit der Turbinenhalle eine Heimat gefunden zu haben, die es uns ermöglicht, unseren Festivalbesuchern an einem Tag extrem viel zu bieten. Die kurzen Wege innerhalb der Halle laden regelrecht dazu ein, auch mal in Konzerte hinein zu hören, die man vorher vielleicht nicht so auf dem Zettel hatte. Irgendwo ist immer etwas los! Diese geballte Power verleiht dem E-tropolis einen unverkennbaren, urigen Charme.
Fällt es dir manchmal schwer, Routine von Begeisterung zu scheiden?
Es ist ganz normal, dass man im Laufe der Zeit vielen Aspekten des Lebens abgeklärter gegenüber steht. Das Festivalgeschehen bildet da keine Ausnahme. Bestimmte Abläufe haben sich mit der Zeit einfach bewährt. Die Konzerte, so sich denn für mich die Gelegenheit ergibt, mal reinzuschauen, erlebe ich immer wieder anders. Früher waren es der Sturm und Drang mittendrin zu sein, heute ertappe ich mich schon mal dabei, losgelöst von der Musik, in die kleinen Geschichten drumherum einzutauchen, die sich im Verlauf der Konzerte zutragen. Zum Beispiel wenn jemand beim Pogen stürzt und ihm alle wieder aufhelfen.
Ist doch selbstverständlich, oder?
Geht mal hart zu Sache. Auch die Interaktion zwischen Bands und Publikum kreiert einzigartige Momente. Sei es nur, dass jemand frech dazwischen ruft und einen entsprechenden Konter kassiert, der den ganzen Saal zum Lachen bringt. Auch wenn ein Newcomer voll abräumt oder eine altgediente Band aufzeigt, wo der Hammer hängt, macht das riesigen Spaß. Letztes Jahr hatte ich einen dieser herausragenden Momente beim Konzert von den Krupps (um das Thema mal wieder aufzugreifen). Als ich zu Zeiten der „Paradise Now“ in die Szene einstieg, war die Band gerade kurz davor, ihre Pause einzulegen. Ich stellte mir oft vor, wie sich die Konzerte wohl angefühlt haben, als „The Final Option“ erschien. Im Zuge der Crossover-Welle wirkte alles so riesenhaft. Dann kam das E-tropolis 2019! Ich stand seitlich auf der Balustrade und beobachtete das Geschehen, als es mich wie ein Blitz traf! Was sich vor meinen Augen abspielte, entsprach exakt dem, wie ich es mir vorgestellt hatte! „Zack, Deckel drauf und ab in den ‚WDR Rockpalast‘ – wir schreiben das Jahr 1994!“. Das war einzigartig – und erweckte eine Stimmung, die ich seit über zwanzig Jahren mit mir herumtrage. Ich bin mir sicher, ähnliche Momente hat jeder schon erlebt. Sie sind es, die Festivals, wie das E-tropolis, so besonders machen!
Auf welche Acts freust du dich persönlich am meisten?
Ich finde, jeder sollte einem Festival möglichst unvoreingenommen begegnen. Mein Herz schlägt im Allgemeinen besonders für die Bands, die zum ersten Mal auf dem E-tropolis spielen. Dieses Mal sind das Ruined Conflict, Absurd Minds, Zweite Jugend und Fïx8:Sëd8. Letztere haben aber schon auf dem Amphi Boot unfassbar abgeräumt.
Stephan Wolf
Sonic Seducer 12-2019 + Lindemann-Titelstory + The Divine Art Kalender 2020 + im Mag: Rammstein, Depeche Mode, Lacuna Coil, ASP, Mono Inc., Marilyn Manson, Apocalyptica u.v.m. |
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