Chris Carter „Chris Carter’s Chemistry Lessons Volume One“
(Mute/Rough Trade)
Über mehrere Jahre hinweg und von sämtlichen Haupt- und Nebenprojekten (Chris & Cosey, Carter Tutti Void etc.) unbehelligt in Angriff genommen, erweisen sich die 25 Tracks von „CCCL Volume One“ – dem ersten Soloalbum des Throbbing Gristle/Industrial Music-Urgesteins Chris Carter seit 1999 – als eine geradezu impertinent an das Einfühlungsvermögen des Hörers adressierte Herausforderung. Wer es also versäumt, seine akustischen Rezeptoren für die Erfassung von subtiler Tiefenschärfe zu sensibilisieren, könnte den Clou des Albums vor lauter Ereignisdichte glatt überhören. Wollte man ihn vorwegnehmen, so müsste zunächst auf die vielfach verwendeten Fragmente volksliedhafter Melodien oder menschlicher Stimmen hingewiesen werden. Selbst wenn diese Klangquellen beinahe bis zur Unkenntlichkeit modifiziert und somit auch rekontextualisiert werden, bleibt ihre Anwesenheit – ähnlich einer die maschinell erzeugte Experimentalästhetik umhüllenden Atmosphäre – jederzeit spürbar. Und dies sogar dann, wenn das von Carter gewählte Ausgangsmaterial bisweilen faktisch gar nichts menschelnd Menschliches enthält. Dabei wirkt „CCCL Volume One“ nicht auch nur einen Moment lang prätentiös. Vielmehr birgt die kleinteilig strukturierte Verfremdungskunst eine Intimität, die glauben macht, den Gedankengängen Carters simultan beizuwohnen. Wer etwa an „MG“ von Martin Gore Gefallen fand, könnte nun die Entdeckungsreise seines Lebens antreten.
Stephan Wolf
Rezension aus Sonic Seducer, Ausgabe 04/2018.